Ciao, hier kommt wieder Post von Tati...
Dieses Mal sende ich euch eine künstlerische virtuelle Postkarte aus Orgosolo auf Sardinien, Italien.
Seid ihr bereit, in das soziokulturelle Erbe der Street Art einzutauchen?
In dieser kleinen Stadt (ca. 4000 Einwohner), die von 1913 bis 1917 die finsteren Zeiten der blutigsten Familienfehden Sardiniens (= disamistade) erlebte und jahrhundertelang als Brutstätte von Kriminellen galt (berüchtigt für ihre Überfälle "bardanas" auf benachbarte Dörfer), finden sich auf weniger als einem Quadratkilometer zahlreiche Wandmalereien – und etwa ebenso viele Touristenattraktionen und Souvenirläden.
Es liegt in der Provinz Nuoro auf der autonomen italienischen Insel Sardinien im Herzen des Supramonte-Gebirges.
Rund um das Dorf Orgosolo gibt es zahlreiche Souvenirläden für Touristen.
Seid also gewarnt, dieser Ort ist kein Geheimtipp mehr.
…aber es beherbergt eine reiche Sammlung (politischer) Street Art und Urban Art. Die über 150 Kunstwerke machten es weltberühmt.
Straßenkunst in Orgosolo: Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte
Der Lehrer und Künstler Francesco del Casino von der anarchistischen Mailänder Künstlergruppe Dioniso malte 1968 nicht nur das erste Wandbild in Orgosolo, sondern gründete in den 1970er Jahren auch ein kreatives Kollektiv von Studenten, das Anliegen und politische Kritik in farbenfrohe Wandbilder umsetzte. Del Casinos Motivation soll die geweckte politische Neugier seiner Studenten gewesen sein.
Mit der Zeit füllten immer mehr Wandmalereien das Dorf (von sardischen Hirten bis hin zu aktuellen innen- und außenpolitischen Themen).
Ihr findet ein Wandbild über Julian Assange, COVID, die Flüchtlingssituation sowie mehrere, die die Unterstützung Palästinas zum Ausdruck bringen. Die meisten Wandbilder enthalten auch ein Gedicht oder eine Botschaft, die die Bedeutung des Kunstwerks hervorhebt.
Wandgemälde zur Unterstützung Palästinas.
Wandgemälde zur Unterstützung von Julian Assange in der Via Repubblica.
Wandgemälde mit scharfer Kritik an der Covid-Politik, die in den Jahren 2020 bis 2021 durchgesetzt wurde (an der Via Rafaele Calamida).
Wandgemälde, die die Flüchtlingskrise in der Via Mazzini kritisieren.
Die Kunstwerke findet man hauptsächlich rund um Corso Repubblica, Via Cavour, Via Mazzini und Via Mani. Sie sind in drei verschiedene Viertel aufgeteilt, wie in der Karte unten angegeben.
Heutzutage müssen die Wandmalereien von der Stadt genehmigt werden. Seit 1992 sind die Kunstwerke immer unpolitischer geworden.
Für 5 Euro ist sogar eine Führung mit Audioguide möglich.
Kleiner Profi-Tipp am Rande:
Versucht es erstmal ohne Audioguide und erratet zunächst die Bedeutung der Straßenkunst von Orgosolo. Übersetzt dann die Botschaft, z. B. mit Google Lens. Manchmal werdet ihr überrascht sein, wie weit eure Vermutung danebenliegt!
Die Reiseführer können auf der Piazza di Caduti en Guerra gekauft werden.
Straßenkunst in Orgosolo: Eine Hommage an eine sardische Legende
Neben politischen Wandgemälden gibt es auch eines zu Ehren eines der berühmtesten Fußballspieler Sardiniens: Gigi Riva.
Er widmete seine gesamte Karriere dem Fußballverein der sardischen Hauptstadt Cagliari. Von Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre war er einer der besten Stürmer aller Zeiten und hielt einen Rekord in seinem Verein. Sein Spitzname war „Rombo di Tuono“ = Donnergebrüll.
Wandbild von Gigi Riva.
Neben der politischen Botschaft anderer Wandgemälde finden sich auch solche, die das handwerkliche Erbe Sardiniens darstellen.
Ein alter Mann trinkt Wein am Corso Repubblica.
Die Arbeit eines Hirten, die in einem anderen Stil am Corso de Rupubblica ausgestellt ist.
Orgosolo Street Art als historisches Dokument: Hirte spielt die typisch sardische Flöte „Launedda“ mit drei Pfeifen. Sie wird auf der Insel seit mehr als 2900 Jahren verwendet.
Hirte in der Via Tiziano.
Dieses Wandgemälde thematisiert eine Revolution der Hirten gegen ihre Herren. Es befindet sich an der Kreuzung von Corso Rebubblica und Via I Maggio.
Wandgemälde von vier berufstätigen Frauen in der Via D'Azeglio.
Natürlich spielen auch interne politische Überlegungen in der Wandmalereienlandschaft eine Rolle…
Auch in der Nähe des Corso Repubblica findet sich Kritik an der Geldpolitik der Bank von Italien.
Die winzigen Straßen voller Cricket haben einen ganz besonderen Charme. Manchmal findet man Orgosolo Street Art an den unerwartetsten Orten.
Der Einsatz für den Frieden ist ein wiederkehrendes Thema der Straßenkunst von Orgosolo.
Dieses Wandgemälde zeigt den berühmten Pratobello-Aufstand (= das bedeutet „schöne Weide“) von 1669 in Orgosolo.
Auf dem Gelände von Pratobello sollte die italienische Armee Schießübungen durchführen. Die Einwohner von Orgosolo leisteten friedlichen Widerstand, indem sie das Land mit etwa 3000 Menschen (darunter Kinder, Frauen und Alte) überschwemmten und mit dem Militär debattierten. Sie schafften es, ihr Ziel zu erreichen, und die Truppen kehrten nie zurück. Pratobello wurde zu einer „Geisterstadt“ mit einer verlassenen Kirche und verlassenen Häusern. Eine entmilitarisierte Zone.
Die Kunst fügt sich perfekt ein – oder fügt sich das Café perfekt ein?
Orgosolo Street Art setzt sich für den Frieden in der Via Repubblica ein.
Einige Wandgemälde enthalten keine politische Botschaft: Sie sind einfach kubistisch und erinnern ein wenig an die Werke Picassos. Man findet es in der Via Goceano.
Wandmalereien im Zentrum von Orgosolo.
Neben der Straßenkunst von Orgosolo gibt es auch andere wichtige Künstler*innen und Kulturschaffende aus Sardinien.
Pinuccio Sciola war in seiner Geburtsstadt San Sperate künstlerisch tätig – er war ein für seine „Klangsteine“ berühmter Bildhauer und schuf auch zahlreiche Wandgemälde.
Grazia Deledda war eine Schriftstellerin, die in der Stadt Nuoro in der Nähe von Orgosolo auf Sardinien geboren wurde. Sie schrieb mehr als 30 Bücher und erhielt 1926 den Nobelpreis für Literatur für den Roman „Canne al Vento“ (= Schilf im Wind), ein Titel, der die Lebensbedingungen auf Sardinien kritisierte. Die Gesellschaft war damals von Patriarchat, Armut und dem Konzept der „Ehre“ geprägt.
Idyllisches Orgosolo mit Bergpanorama
Neben der Straßenkunst in Orgosolo findet ihr hier einige Tipps, wie ihr nach Orgosolo gelangt, wo ihr am besten essen könnt und was ihr meiden solltet…
Von der nächstgrößeren Stadt Nouoro aus erreicht ihr Orgosolo bequem mit dem Bus (Linie 509, Fahrtzeit ca. 30 Min.) – informiert euch vorher unbedingt über den Fahrplan, denn je nach Saison gelten unterschiedliche Fahrpläne.
Hebt euren Hunger auf Gelato für eine andere Gelegenheit auf – die meisten Geschäfte sind sehr touristisch und das gilt auch für die Eisdielen.
Trinkt einen Kaffee (Espresso), Wein oder esst etwas in der kleinen lokalen Weinbar Braceria Amistade.
Taucht unbedingt in die Atmosphäre dieser lebendigen Kunststadt ein und nehmt euch ein oder zwei Minuten Zeit, um über die von den Künstler*innen angesprochenen Themen nachzudenken.
Die Straßenkunst in Orgosolo hat mich mit ihrer starken Botschaft (die größtenteils auf Italienisch ist) auf jeden Fall überrascht. Ich wurde mit vielen Themen konfrontiert, über die ich nachdenken musste, und war dennoch von dem malerischen Dorf und seinen Kunstwerken begeistert.
Wenn ihr zufällig auf Sardinien seid, solltet ihr euch dieses lebendige Dokument der Straßen- und Urban-Art-Geschichte von Orgosolo nicht entgehen lassen!
Ciao und alles Liebe,
Tati